"Der Italiener hat ja auch keinen Haberschlachter"
So lange ist das nicht her: Ende der 90er, auf dem Höhepunkt der BSE-Krise, wurde allerorten das Totenglöckchen für Innereien geläutet. Und jetzt das: Hirnsuppe! Nierle, Kutteln und Leber gibt's im Goldenen Hirsch sowieso. Manchmal sogar Kalbskopf gebacken oder en tortue.
"Wenn ich so was habe, läuft das", bezieht Otto Schmid klar Position für die geschmähten Spezialitäten. Der Koch in dem Traditionsgasthof in Reichenbach/Fils kann aber auch aus dem Vollen schöpfen: In einem Flügel des Hauses ist die vom Bruder betriebene Metzgerei untergebracht. "Wenn wir die nicht hätten, wäre unsere Karte halb so groß", übt sich Schmid pro forma in Selbstkritik und setzt hinzu: "Wehe, ich nehme irgendwas runter, dann fragt bestimmt einer danach."
Die Gäste sind eben verwöhnt. Von der bodenständigen Küche, die vor allem auf schwäbische Fleischeslust ausgerichtet ist. Vom zuvorkommenden Service, den Ute Nothdurft versieht. Und vom heimeligen Ambiente. Wer sich erst einmal auf der dick gepolsterten Holzbank niedergelassen hat, schlotzt gerne ein Viertele mehr - auch im Henkelesgläsle, das die freundliche Bedienung auf Wunsch bringt ("Die Männer möge des halt lieber").
Gründe, auf das Traditionsunternehmen anzustoßen, gibt es zuhauf. Zum Beispiel das Jubiläum: Seit 100 Jahren ist der Goldene Hirsch im Familienbesitz. Vier großformatige Fotografien in der Gaststube zeugen von den Umbauten der 1908 von Großvater Schmid erworbenen Schankwirtschaft. Aus dem alten Saal im ersten Stock wurden zunächst einfache Gastzimmer. Nach dem letzten Umbau 1992/1993 beherbergt der Goldene Hirsch 20 komfortable Fremdenzimmer. In der Gaststube ist dagegen zum Glück alles beim Alten geblieben - erhalten sind die kunstvollen Butzenscheiben, die 1948 von einem Reichenbacher Schnitzer gefertigten Leuchten, die getäfelten Wände.
Gasthof, Metzgerei, Hotel - es ist schon ein richtiges Unternehmen, das die vier Schmid-Geschwister gemeinsam betreiben. "Dann kann wenigstens kein Fremder reinschwätzen", lacht Otto Schmid: "Wir ergänzen uns, wenn viel los ist, sind alle da." Sie seien von den Eltern für den Betrieb erzogen worden. Otto Schmid hat die Mutter in der Küche abgelöst. Sein Rüstzeug hat er sich in der (längst geschlossenen) Sonne-Post in Murrhardt geholt.
Dort, wir erinnern uns, gab's auch Kalbskopf. Und viele Köstlichkeiten, wie sie uns Schmid an diesem Abend servieren lässt: die rahmige Hirnsuppe (2,70 Euro) und die feine Flädlesuppe (3,20 Euro), Saure Nierle in sämiger Soße mit krossen Bratkartoffeln (9,70 Euro) und ein mürber Zwiebelrostbraten mit ausgezeichnetem Kartoffelsalat. Gutbürgerliche schwäbische Küche eben. Dass Otto Schmid auch mal für anspruchsvollere Gäste kocht, glauben wir ihm gerne.
Schwäbisch dominiert ist auch die Weinkarte. Kenner trinken Württemberger, sagt Schmid und fügt knitz hinzu: "Beim Italiener in Rimini gibt's ja auch keinen Haberschlachter." Für Bierfreunde hingegen ist der Hirschen-Wirt erfreulich inkonsequent: Eine der beiden angebotenen Sorten kommt aus Bayern - seit 1928 gibt's im Goldenen Hirsch Hacker-Pschorr, offen, versteht sich, und dunkel sowie hell.
Die Produkte indes stammen nicht vom Bäuerchen, sondern vom Großmarkt. Otto Schmid sagt's offen. Auch, dass in der Metzgerei längst nicht mehr geschlachtet wird. Alles andere, vom Fleischkäse bis zum Ragout fin, stammt aber aus Schmidt'scher Produktion. Beim nächsten Mal probieren wir Königinpastetchen.
Goldener Hirsch, Stuttgarter Straße 19, 73262 Reichenbach/Fils. 07153/9849-0, Geöffnet: Samstag bis Donnerstag von 11.30 bis 14 sowie von 17.30 Uhr an. Freitag Ruhetag....
13.05.2008 - Tanja Kurz, aus den StN vom 05.04.2008
Quelle: http://www.stuttgarter-nachrichten.de